Prosa
Der gelebte Moment
Harald Grill schrieb die Biografie der jüdischen Malerin Marylka Bender
Geschichtliche Daten werden vor allem dann interessant, wenn man sie anhand des Schicksals einzelner Menschen nachvollziehen kann. Denn was andere erlebt und erlitten haben, ist ein Anreiz zum direkten Vergleich mit der eigenen Existenz. Der Schriftsteller Harald Grill widmet sich in seinem neuesten Buch dem Leben von Marylka Bender. Es umfasst die lange Zeitspanne von über hundert Jahren und reicht vom 1. Weltkrieg bis in die Gegenwart.
Die Künstlerin lebt seit Anfang der 1990er Jahre wieder dauerhaft in München. Dort hat sie der Autor aufgesucht und interviewt. Anschließend erarbeitete Grill, in dessen Texten das Wandern auf dem Lebensweg und durch die Welt schon lange ein zentrales Thema ist, auf der Grundlage dieser Gespräche, wie er es treffend nannte, „ eine Reisebeschreibung durch ein fremdes Leben“.
Marylka Bender wurde 1909 als Kind jüdischer Eltern in der polnischen Grenzstadt Sosnoviec, die damals zu Russland gehörte, geboren. Im Alter von fünf Jahren kam sie mit ihrer Familie kurz vor Ausbruch des Kriegs nach München, da sich der Vater als Maler hier bessere Berufschancen erhoffte. Stanislas Bender richtete sich ein Atelier in der Isabellastraße ein und feierte mit Milieu- und Genrebildern bald erste Erfolge. Nebenbei machte er auch Entwürfe für Reklameprospekte und war bald ein gefragter Werbegrafiker. Marylka besuchte ab 1915 die Volksschule. Als Ausländerin hatte sie es anfangs schwer und musste sich erst einmal die Sprache aneignen. 1919 starb die Mutter 34-jährig an der Spanischen Grippe. Ab dieser Zeit war die Tochter ganz auf ihren Vater fixiert. Er beschloss ihren vorzeitigen Schulabschluss und unterrichtete sie im Malen und Zeichnen, damit sie in seiner Reklame-Agentur mitarbeiten konnte. Ihre Entwürfe für Glückwunschkarten kamen gut an. In den 1920er Jahren verstärkte sich jedoch die antisemitische Stimmung in München und führte schon bald zu einer Reduzierung der Aufträge. 1936 gelang es den Benders gerade noch, vor den Nationalsozialisten nach Paris zu entkommen. Als dort die Deutschen einmarschierten, flohen Vater und Tochter nach Südfrankreich und versteckten sich dort jahrelang. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Marylka die französische Staatsbürgerschaft an und heiratete den Münchner Philosophen Christian Kellerer. In der Folgezeit pendelte das Paar zwischen Paris, wo die Künstlerin erfolgreich einen Verlag für Kunst- und Glückwunschkarten betrieb, und der bayerischen Hauptstadt. Als 80-jährige entdeckte die Malerin dann den Zen-Buddismus für sich und experimentiert seitdem mit Tuschearbeiten im chinesisch-japanischen Stil. Sie brachte in den letzten Jahren mehrere Bücher mit Zeichnungen, Prosatexten und Gedichten heraus und befasste sich mit den philosophischen Werken ihres Mannes, der 1998 verstorben war.
Parallel zur Schilderung der einzelnen Lebensstationen seiner Protagonistin blendet der Autor die zentralen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse jener Zeit immer wieder ein und versucht auch, die damalige Atmosphäre einzufangen. Das Münchner Milieu in den Jahren des 1. Weltkriegs mit einer zugespitzten Versorgungslage und den vielen Kriegsversehrten in den Straßen, das anregende Leben in Paris, die beklemmenden Stunden vor einer drohenden Deportation in Lourdes, die Hilfsbereitschaft der Menschen in Südfrankreich, dies alles wird für den Leser erlebbar. Gemeinsam mit seiner Gesprächspartnerin analysiert Grill deren Charaktereigenschaften, Gefühlswelt und Beweggründe und vermittelt dadurch ein abgerundetes Bild dieser beeindruckenden Persönlichkeit. So versteht der Leser letztendlich, warum Marylka Bender nie ein Heimatgefühl entwickeln konnte, wie sie zur Zen-Malerei gefunden hat und weshalb es ihr jetzt im Alter vor allem um eines geht: um den gelebten Augenblick.
Harald Grill / Siegfried Maier: "Ich war schrecklich brav, viel zu brav". Marylka Bender-Kellerer - ein Leben, ein Jahrhundert, Verlag Sankt Michaelbund, München 2013, ISBN 978-3-943135-09-1, 14,90 €