Prosa
Oliver Machander:
Märchenrund' zur Geisterstund'. Märchen aus Regensburg und aller Welt
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!“ (Friedrich Nietsche, in: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 1880)
Märchen werden allzu oft unterschätzt. Die Aufforderung „Erzähl mir keine Märchen!“ und die Tatsache, dass der Titel „MärchenerzählerIN“ auch in der Bedeutung von „LügnerIN“ gemeint sein kann, verweist auf die geringe Achtung, die man den Erzählungen aus dem Reich der Fantasie im Alltags erweist. Und doch – das Bedürfnis nach Märchen begleitet uns ein Leben lang. Mit zunehmenden Alter wird diese Sehnsucht aber heute zumeist wie eine abgelegte Haut aus der Kindheit behandelt und nur noch unterschwellig wahrgenommen. In früheren Zeiten wurde abends, wenn die Dunkelheit hereinbrach, in gemeinsamer Runde erzählt. Dabei kamen auch die alten Märchen zur Sprache. Die Menschen in der Oberpfalz waren überaus reich mit ihnen gesegnet. Das beweist allein die Sammlung des Franz Xaver von Schönwerth, der im 19. Jahrhundert viele der nur mündlich überlieferten Märchenstoffe aufschrieb und so vor dem Vergessen rettete. Doch jede Zeit verlangt auch nach ihren eigenen Märchen- und Geschichtenerzählern.
Oliver Machander hat es sich zum Beruf gemacht, den Reichtum der Märchen an seine Zuhörer zu vermitteln. Er reist seit Jahren durch die Oberpfalz, um in freier, lebendiger Erzählweise große und kleine Besucher seiner Veranstaltungen für die unendlichen Welten der Fantasie zu begeistern. Dabei hatte er von Anfang an neben altbekanntem Erzählgut aus dem eigenen und aus fremden Kulturkreisen auch selbst ausgedachte, ideenreiche Schöpfungen im Programm und diese später publiziert.
In dem vorliegenden Buch gelingt es dem Autor, den Bau, die Räumlichkeiten und die Geschichte des Alten Rathauses in Regensburg in einem Teenager-Abenteuer erlebbar zu machen und durch einen Reigen von damit verknüpften Märchen – quasi nebenbei – die immense Bedeutung zu vermitteln, die der Fantasie in unserem Leben zukommt. Oliver Machander präsentiert damit dem Leser die Gegenwart, die Historie und die Illusion, geschickt zu einem Dreiklang miteinander verwoben. Schutz und Trutz, die zwei steinernen Wächter am Eingangsportal, öffnen den beiden Schülern die Pforten zur „Anderswelt“. Dieses Reich, in dem die Märchenwesen leben, erweist sich als Spiegelbild der Menschenwelt. Hier regiert die Vorstellungskraft und es gelten andere Gesetze von Zeit und Raum. Die Gesandten aus aller Herren Länder, die im Alten Rathaus jahrhundertelang verkehrten, haben in den Gemäuern bis heute ihre Spuren in Form von Erinnerungen und Träumen hinterlassen. Von Schutz und Trutz zum Leben erweckte Geschichtengeister liefern den Schülern dazu fesselnde Erzählungen aus aller Welt. Sandra Ittner hat sie humorvoll illustriert und mit aussagekräftigen Bildern bereichert. Einen reizvollen Kontrast bilden die antiquierte Sprache der Märchenfiguren und der unverblümte Jugendjargon der Schüler.
„Vergesst nicht zu träumen!“ rufen die Wächter ihren Schützlingen beim Abschied zu. Dies ist auch die zentrale Aufforderung des Autors an seine Leser, die wir uns alle zu Herzen nehmen sollten.
Dr. Christine Riedl-Valder